Sonntag, 15. August 2021

Das Schaufelmännchen

Meine DIY-Geschichte


Das Schaufelmännchen

Es war einmal eine Prinzessin. Sie lebte als einzige Tochter zusammen mit ihren Eltern in einem sondergleichen Schloss, das aus lauter Türmen bestand.


König und Königin waren grossmütige und freundliche Herrscher, die nur das Beste für ihre Untertanen wollten. Die Prinzessin war dagegen ganz anders und machte ihren Eltern grosse Sorgen. So hübsch wie sie war, so selbstgefällig und launisch war sie. Ihren Eltern begegnete sie mit wenig Liebe, der Zofen brachte sie dazu, sich wertlos und unfähig zu fühlen und den Hauslehrer spottete sie ständig aus. Sie würdigte nichts und niemanden und konnte weder echte Freude noch Dankbarkeit empfinden. Sie nutzte ihre Nächsten aus, um sich mit Aufmerksamkeit und Bewunderung zu versorgen und um ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen. Obwohl sich König und Königin immer sehr bemühten, fruchtete nichts, was sie unternahmen, um aus ihrer Tochter einen besseren Menschen zu machen.

Als sie eines Tages auf ihrem Morgenspaziergang auf dem Zinnenweg eine Rast machten, entschieden sie sich, dass die selbstsüchtige Prinzessin ein Jahr lang jeden Morgen in der Küche Früchte und Gemüse putzen sollte. Auch wenn ihre Finger bei dieser Arbeit dreckig werden könnten, so würde doch womöglich ihre Seele durch die Arbeit und durch das Zusammensein mit bescheidenen und ehrlichen Menschen gesunden


Also stand am anderen Tag die Prinzessin zwischen den Mägden an einem Spültrog. Vor ihr lagen Äpfel, die sie unter fliessendem Wasser waschen und anschliessend schälen und schneiden sollten. Sie wussten nicht, was sie mit den runden Dingen tun sollte und sie wollten auch nichts tun. Am liebsten hätte sie sich unter dem Trog versteckt. Sie wollte sich gerade bücken, als sie ein eigenartiges Pfeifen vernahm.


Es schien aus dem Ausguss des Trogs zu kommen. Sie näherte sich diesem mit dem Ohr. Alsbald verspürte sie einen Schlag am unteren Rand ihrer Ohrmuschel. Sie zuckte zurück und sah einen überaus hübschen Kobold mit einer Schaufel in der Hand, der auf einem Apfel tanzte und versuchte, das Gleichgewicht zu behalten. Das sonnengebräunte Männchen hatte lockiges, braunes Haar und trug ein grünes Wams. Die Prinzessin zog flugs den Apfel unter dem Wicht weg, denn sie wollte, dass dieser von dem Apfel herunter und wieder in den Ablauf fiel. Der Wicht fiel nicht, sondern hechtete sich auf den Kopf der Prinzessin. "Solange du nicht tust, was dir deine Eltern aufgetragen, werde ich hier auf deinem Kopf stehen und pfeifend mit meiner Schaufel herumfuchteln. Alle Mägde und Knechte, alle Zofen und Haudegen, dein Bruder, deine Schwägerin, ja sogar deine Eltern werden nur noch Aufmerksamkeit und Bewunderung für mich haben." Der Gedanke, dass nicht mehr sie, die Prinzessin, sondern ein Schaufelmännchen im Mittelpunkt des Interesses aller stünde, liess die Prinzessin aufhorchen. Sie brauchen die Bestätigung und Anerkennung der anderen als Nahrung für ihre kranke Seele. Wohl oder übel konnte sie nicht anders, als die Aufgabe, die ihr aufgetragen worden war, zu erledigen. Also wusch und putzte und schnitt sie und solange sie dies tat, hörte sie kein Pfeifen und spürte kein Schlagen. "So wird der Kobold wohl verschwunden sein", dachte sie. Dem war auch so, solange sie emsig arbeitete. Als sie aber am Nachmittag, wie so oft schon, ihren alten Hauslehrer aufs Hässlichste verspottete, spürte sie sofort die Anwesenheit des Schaufelmännchens. Es waren aber nicht so sehr das Pfeifen und das Schlagen, das ihr die Gegenwart des Wichts spüren liess, sondern das Verhalten des Lehrers, der sich das erste Mal nicht dem Spott der Prinzessin beugte.

Und so ging es fort und fort. Probierte sie bescheiden und einfühlsam zu sein, so war das Schaufelmännchen abwesend, tat sie hingegen wie ehemals, so tauchte es auf ihrem Kopf auf, fuchtelte pfeifend mit seiner Schaufel durch die Luft und tat so, dass die Menschen über das Männchen lachen mussten und vergassen, die Prinzessin zu beachten und sich ihrem Willen zu beugen. Als schon unzählige Tage vergangen waren, merkte der Königstochter, dass sie Freude, Zufriedenheit und Glück empfand, als sie ihren Eltern einfühlsam begegnete, den Zofen wohlgesinnt war und sich dem Hauslehrer nicht überlegen fühlte. Auch empfand sie mit der Zeit Interesse an dem, was ihr die Welt um sie herum zu bieten hatte. Sie erfreute sich an den bunten Blumen und am Springbrunnen im Schlosspark und an Obst und Gemüse, das im Garten gedieh. Mit grosser Freude spazierte sie auf dem Zinnenweg und genoss die herrliche Aussicht über die gesamte Schlossanlage. Das Jahr, in dem die Prinzessin arbeiten musste, neigte sich dem Ende entgegen. Am letzten Morgen hechtete der überaus hübsche Kobold mit der Schaufel in der Hand vom Kopf der Prinzessin auf einen Apfel im Waschtrog.


Dort tanzte er und versuchte, das Gleichgewicht zu bewahren. Doch nun hatte die Prinzessin kein Verlangen mehr, den Apfel unter dem Wicht wegzuziehen, damit er in den Trog fiel. Im Gegenteil: Sie hoben ihn sanft auf ihre Hand und küsste ihn. Sie war unendlich dankbar, weil das kleine Männlein ihr geholfen hatte, ein besserer Mensch zu werden. Im Augenblick des Kusses verschwand der Kobold dorthin, wo er gekommen war. Seine Anwesenheit war definitiv nicht mehr nötig.


Barbara