Freitag, 17. September 2021

Eirenaios von Kea

Meine DIY-Geschichte aus Griechenland


Eirenaios von Kea


Eirenaios wischt sich mit dem Handrücken den Schweiss von der Stirne und verlangsamt seine Schritte. Der Stand der Sonne zeigt ihm, dass es weit nach Mittag ist. Nun wird er hoffentlich bald den Mittelpunkt der Welt erreicht haben. Beschwerlich und weit war sein Weg von seiner Heimatinsel Kea bis zum Fusse des Berges, der Apollon geweiht ist. Hier beim Orakel von Delphi will er erfahren, wohin er des Weges ziehen muss, um eine neue Heimat zu finden.

Die Insel seiner Väter ist ihm zum Käfig geworden. Er kennt jede Bucht, jede Grotte, jedes Kap, alle kleinen Hochebenen des Landesinneren, alle Täler, alle Schluchten. Die Menschen der Insel sind ihm zu bescheiden und anspruchslos geworden; sie langweilen ihn ebenso wie die Städte der Insel und die Dörfer. Er hat mehr verdient als ein solches Leben ohne Abwechslung und Abenteuer. Der hübsche Eirenaios mit den schulterlangen, gelockten Haaren weiss um die oftmals rätselhaften Antworten der Pythia und er ist überzeugt, dass sie, wenn sie ihn sieht, nicht anders kann, als ihm eine klare und eindeutige Antwort zu geben. Er beschleunigt seine Schritte wieder und schaut, dass er die Wegmarken nicht aus den Augen verliert.


Als der Berghang noch steiler zu werden beginnt und der Duft von Zistrosen und Salbei die Luft nun fast vollständig erfüllt, erspäht er zwischen den Bäumen und Sträuchern, die seinen Weg säumen, stolze, weisse Säulen aufragen. Nun weiss er, dass er sein Ziel bald erreicht haben wird.


Alsbald sieht er vor sich eine Schlange von Menschen. Er ist wohl nicht der einzige, der den Rat des Orakels langsam sucht. Die Sonne ist bereits hinter den Kuppen der Berge verschwunden, als sich vor Eirenaois nur noch ein alter, bärtiger Mann befindet, "Was hat dieser kauzige alte Knabe hier wohl zu suchen?" Eirenaios schüttelt missmutig seinen gelockten Kopf. Es dämmert bereits, als der alte Mann durch den Kreis von Kermeseichen, die das Heiligtum vom Aussenbereich abtrennen, endlich wieder hinauskommt. Nun ist es an Eirenaios, der vor die Priesterin treten darf.

Pythia sitzt in einem schlichten, weissen Gewand, das von einem goldfarbenen Gürtel umfangen wird, auf einem Dreibein aus Akazienholz. Ein langer, ebenfalls weisser Schleier bedeckt ihr Gesicht und lässt oberhalb des Gürtels ihre langen, rötlichbraunen Haare hervortreten. Sie lüftet den Schleier, schaut dem Bittsteller in die Augen und beginnt zu sprechen: "Wer bist du, woher kommst du und welches soll das Thema meiner Weissagung sein?"

Eirenaios fällt auf die Knie, küsst die Füsse der Pythia und antwortet: "Tugendhafte Dienerin des Apollon, meine Insel Kea ist mir, dem Eirenaios, Sohn des Lambros, zum Käfig geworden; ich bin unglücklich, dort wo ich lebe. Wo kann ich eine neue Heimat finden?"


Pythia schweigt eine geraume Zeit, neigt von Zeit zu Zeit den Kopf und faltet die Hände wie zum Gebet. Dann beginnt sie zu sprechen: "Eirenaios von der Insel Kea, du bist ein freier Mann. Wärest du ein Sklave, dann wärest du im Käfig deines Herrn gefangen. Es wäre sinnlos zu versuchen, auszubrechen, da sich die Stäbe solcher Käfige nicht brechen lassen. Dein Käfig ist von anderer Art. Aus ihm kannst du ausbrechen. Du musst dich nur von dem befreien, was deinen Geist trübt. Also gehe zurück nach Kea, bleibe dort und tue es. So spricht Pythia, zieht sich den Schleier wieder über ihr Gesicht und hebt die Hand zum Zeichen, dass alles, was sie zu sagen hat, gesagt ist.


Eirenaios steht auf, verneigt sich dankend vor der Priesterin und schreitet langsam rückwärts, bis er den Kreis der Kermeseichen wieder erreicht hat. Er dreht sich um, schüttelt den Kopf und setzt sich an den Fuss eines der Bäume. Nun konnte die Priesterin doch anders, als im eine klare und eindeutige Antwort zu geben. Erst jetzt merkt er, dass er sich nicht alleine beim Baumkreis befindet. Der alte, bärtige Mann sitzt auch hier und mampft genüsslich getrocknete Feigen. "Und", beginnt er zu sprechen, "hast du bekommen, was du zu bekommen hofftest, junger Mann?" - "Nein!", antwortet Eirenaios kurz angebunden. "Du kannst Vertrauen zu mir haben, mein Sohn, vielleicht kann ich dir helfen, das Rätsel zu entziffern." Die ruhige und besonnene Art, in der der Alte sprach, lassen Eirenaios Zuversicht gewinnen und er antwortet: "Die Priesterin hat gesagt, ich soll mich von dem befreien, was meinen Geist trübt. Was könnte das bedeuten, Vater?" Der alte Mann kaut weiter und schweigt lange. Dann sagt er mit leiser Stimme: "Mein Sohn, das kann nichts anderes bedeuten als, dass du dich bemühen sollst, deine Schwächen zu erkennen und diese in Stärken umzuwandeln. Der alte Mann schaut Eirenaios an. Dieser holt tief Atem und entgegnet fröhlich: "Aber ich habe doch keine Schwächen!" - "Leider, mein Sohn, haben wir alle unsere Laster. Der eine ist selbstverliebt, ein anderer überheblich und wieder ein anderer ist habgierig. Es ist, wie wenn in uns, immer und immer wieder, ein böser Drache Überhand zu gewinnen versucht. Ihm müssen wir entgegentreten, indem wir versuchen, Unrechtes Tun zu vermeiden, Richtiges nicht zu unterlassen und auf Unrecht nicht mit Unrecht zu antworten. Durch dein stetiges Ankämpfen gegen deinen inneren Drachen wirst du erfahren, dass es eine Freiheit gibt, die aus einem selbst kommt. Und diese Freiheit wird dich begleiten, egal, wo immer du auch bist: auf einer grossen Insel oder auf einer kleinen, auf dem Festland oder auf dem Meer, in Gesundheit oder in Krankheit, in Freude oder in Trauer." Lange sitzen die beiden Männer schweigend nebeneinander, bis sie sich zum Schlafen niederlegen.


Am anderen frühen Morgen, die Sonne ist noch nicht aufgestanden, erheben sie sich gleichzeitig und schreiten miteinander den Berg hinunter. Am Fusse des Parnass trennen sie sich und Eirenaios weiss, dass er den alten Mann, den er noch gestern als kauzigen alten Knaben bezeichnete, nie vergessen wird.


Barbara