Meine DIY-Geschichte
So ein Zufall, den ich eben erst entdeckt habe! Heute vor genau 15 Jahren waren wir im Yu-Garten in Shanghai. Die Erinnerungen waren schon etwas verblasst, aber mit Gao Jin und Song Lu sind sie nun wieder klarer geworden.
Entscheidung im Yu-Garten
Langsam schreitet Gao Jin durch das kreisrunde Tor zu den kleinen Seen und Teichen des Yu-Gartens. Immer wieder ist der Mathematikstudent erstaunt, dass der "Garten des Erfreuens", inmitten der Altstadt Shanghais, für ihn eine Oase der Ruhe ist. Hier, zwischen einzigartigen und seltenen Pflanzen, beeindruckenden Pavillons, steinernen Drachen und Löwen kann er abschalten, Kraft schöpfen oder sogar wichtige Entscheide fällen.
Oft sucht er den Ort auch auf, um zu zeichnen. Als Ausgleich zu seinem Studium widmet sich Gao Jin der Tuschemalerei. Er ist kein Experte auf dem Gebiet, aber er liebt es, die Landschaften und die Natur des Yu-Gartens stimmungsvoll wiederzugeben. Er malt auf Papier und versucht, wie beim schwarz-weissen Pinselzeichnen üblich, überflüssige Elemente wegzulassen. Dies fällt ihm oft nicht leicht. Sein Ziel wäre es, in absehbarer Zeit die Ginkgobäume des Yu-Gartens auf Seide zu malen.
Ja, die Ginkgobäume. Acht Tuschezeichnungen dieses Baumes, der auch Glücksbaum genannt wird, hingen an der Wand seines Studentenzimmers. Nun sind sie nicht mehr. Gestern Abend, als er vom Kino nach Hause kam, lagen nur noch Hunderte von Papierschnipseln am Boden. Seine Freundin Song Lu, die er vor gut einem Jahr gerade bei einem dieser Bäume mit den unverwechselbaren Blättern kennengelernt hat, sass am Tisch seines Zimmers und entgegnete ihm hässlich: "So, das hast du nun für deine ewige Flirterei mit deinen Studentinnen."
Damals, beim Glücksbaum, hatte er sich Hals über Kopf in die zierliche Lu mit dem langen, schwarzen Zopf verliebt und war glücklich. Auch die junge Frau schien ihm wohlgesonnen zu sein. Sie trafen sich noch einige Male im Yu-Garten, um zu plaudern und zu diskutieren. Sie schrieben sich Dutzende von Nachrichten, bevor sie entschieden, miteinander auszugehen. Schon in den Anfängen ihrer Beziehung merkte Jin, dass Lu dazu neigte, ihn zu kontrollieren. Das gefiel ihm zwar nicht, aber er dachte, diese Ausdrucksform der Eifersucht sei normal, da ihre Beziehung noch in den Anfängen steckte. Die Kontrollen jedoch wurden mit der Zeit nicht weniger, im Gegenteil. Jin merkte bald, dass Lu, die Nachrichten auf seinem Handy las und ihn, je länger je mehr davon abhielt, mit seinen Mitstudierenden, unter denen es selbstverständlich auch Frauen gab, auszugehen. Dass Lu krankhaft eifersüchtig war, wurde immer offensichtlicher. Gestern nun, während er nach mehreren Wochen wieder einmal ins Kino ging, zerstörte Lu seine Ginkgo-Zeichnungen.
Lu sprach gehässig weiter: "Jin, ich habe dich vor dem Kino mit einer anderen Frau gesehen." Und noch lauter: "Du betrügst mich." Es entstand eine lange Pause, in der keiner der beiden etwas sagte. "Jin, mein Liebster, das mit den Bildern tut mir leid, ich liebe dich einfach zu sehr."
Das erste Mal, seit er Lu kannte, gab Jin nicht nach. Er bat Lu, sein Zimmer zu verlassen, da er nichts sehnlicher wünschte, als alleine zu sein. Nach einigem Hin und Her verliess die junge Frau endlich das Zimmer ihres Freundes. Und nun, während Gao Jin die Karpfen und Koi-Fische in den Teichen beobachtet, sagt er zu sich: "Nein, so kann es nicht weitergehen. Ich verliere mich selber, wenn ich noch länger mit Lu zusammen bin. Kann Eifersucht mit Liebe korrespondieren? Vielleicht ist Eifersucht ja gerade das Gegenteil von Liebe, weil es in Tat und Wahrheit um Selbstbezogenheit geht. Hat Lu womöglich eine falsche Vorstellung von Liebe? Reagiert sie deshalb besitzergreifend?"
Gao Jin schreitet langsam weiter und hängt seinen Gedanken nach. Er kommt zur gewellten, weissen Drachenmauer und bleibt erneut stehen. Lange und nachdenklich schaut er zu einem der fliegenden Drachen hoch. "Manchmal, so dünkt es mich", sinniert er weiter, "bin ich für Lu wie ein Besitz, eine Art Trophäe. Ich diene dazu, ihren Selbstwert zu erhöhen. Nun spüre ich aber, dass Lus Kontrollen mich in Pflicht nehmen und sie ständig mehr Macht über mich gewinnt. Ich verliere mich, weil mir dies alles verunmöglicht, mich selber seelisch und geistig weiterzuentwickeln. Das kann doch nicht Liebe sein!"
Es scheint Gao Jin, dass der Drache mit dem halbgeöffneten Mund und den markanten Schneidezähnen ihm beipflichten und ihm zuflüstern will: "Ja, Jin, Liebe heisst nicht, dem anderen das persönliche Wachstum zu verwehren, im Gegenteil: Liebe heisst, sich gegenseitig in der seelischen und geistigen Weiterentwicklung zu unterstützen." Jin verbeugt sich vor dem Drachen und schreitet entschlossenen Schrittes dem Ausgang des Gartens entgegen. Nun weiß er, was er tun wird.
Barbara, 8. Oktober 2021