Sonntag, 5. Dezember 2021

Glandis und Kukumis

Meine DIY-Weihnachtskugel-Geschichte


Glandis und Kukumis

Mein Name ist Glandis. Ich bin eine kleine, rote Kugel aus Glas, die einen Aufhänger aus goldfarbenem Metall hat. Viele Leute nennen mich Weihnachtskugel, andere hingegen sagen mir Christbaumkugel. Mein bester Freud, der mir immer zur Seite steht, ist Kukumis, eine Weihnachtsgurke, also ein aus Glas hergestellter Baumschmuck in Form einer Gewürzgurke. Mein Freud und ich teilen das gleiche Schicksal. Wir sind Verkaufsgegenstände in einem ganzjährigen Weihnachtsdorf einer berühmten Glashütte. Zum Glück hat uns in den zwei Jahren, in denen wir aus jener Glashütte, in der wir hergestellt wurden, in jene überführt wurden, wo wir verkauft werden sollen, noch niemand gekauft.

So können mein Freund und ich immer noch zusammen sein. Oft unterhalten wir uns über den Sinn unseres Daseins als Baumschmuck, über unser Alltägliches und über unsere Beobachtungen. Letzteres machen wir besonders gern. Letzten Juli, also eigentlich ist es ja schon verrückt, wenn Menschen im Hochsommer Häuschen und Marktstände besuchen, die man sonst nur in vorweihnachtlicher Zeit findet, kam eine Familie, die unter dem funkelnden Sternenhimmel des Weihnachtsdorfes die Frage diskutierte, seit wann es eigentlich gläsernen Baumschmuck gäbe. Sie kamen mit 1900 der richtigen Lösung ziemlich nahe. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es nämlich Glaskugeln für den Christbaum, deren erste Exemplare in Thüringen geblasen wurden. Ein anderes Mal, korrigierte eine Frau einen Mann, der der weissen Kugel aus Porzellan, die in Meissen gefertigt wurde und ein blaues Schwertchen trägt, Christbaumkugel sagte. Sie meinte, man dürfe der Kugel nur noch Deko-Kugel sagen, weil sonst Menschen, die nicht Christen seien, diskriminiert würden. Mein Freund Kukumis meinte, die Frau sei total durchgeknallt, denn Sprache würde ja mit Bestimmtheit nicht Wirklichkeit schaffen. Verschroben war auch jener Besucher der Ausstellung, der nach Baumkugeln aus dem Dritten Reich fragte. Abgesehen davon, dass das Weihnachtsdorf kein Flohmarkt ist, kann doch kein normaler Mensch Kugeln mit Hakenkreuzen oder dem Konterfei Hitlers wollen.

Einmal, Kukumis und ich mussten lange auf unsere Plaudereien warten, weil Abendverkauf war und wir ja bekannterweise nur sprechen können, wenn keine Menschen anwesend sind, war mein Freund wirklich betrübt. Ein Halbwüchsiger soll ihn ausgelacht und zu ihm "grüner Pimmel" gesagt haben. Dabei ist doch mein Kukumis so stolz, dass er mit seinem Dasein einem alten Brauch zum Überleben verhilft. Der Brauch ist folgender: Derjenige, der am Weihnachtsbaum als erster die Weihnachtsgurke entdeckt, bekommt ein zusätzliches Geschenk. Und das sei gar nicht so einfach, meinte Kukumis, denn dadurch, dass Weihnachtsgurken grün, seien sie zwischen den gleichfarbenen Zweigen des Christbaumes nur schwer zu finden.

Ich versuchte meinen Freund zu trösten, indem ich ihm versicherte, dass er die schönste Weihnachtsgurke auf der Welt sei. So für mich dachte ich, dass so ein kurioser Brauch bestimmt in Amerika erfunden worden war.

Manchmal, ehrlich gesagt, bin auch ich betrübt. Die Stimmung kommt ganz plötzlich über mich und dann bin ich jeweils so etwas wie eine depressive Weihnachtskugel. Ich meine in dieser Phase, dass die anderen Kugeln viel schöner seien als ich, nicht nur jene Porzellankugel aus Meissen, auch jene Swarovski-Kugel aus Glas, in deren Inneren sich eine brennende Kerze - ebenfalls aus Glas - befindet. Kukumis spricht mir dann jeweils gut zu. Er sagt zu mir, dass der Erfolg nicht darin bestünde, möglichst schnell und möglichst teuer verkauft zu werden, sondern darin, in seinem Dasein Zufriedenheit zu empfinden. Meine graue Stimmung lässt dann immer ganz schnell nach. Ja, eine getunte Kugel bin ich zufrieden sein, dass ich einfach nur eine rote Baumkugel bin. Ganz normal, ganz bescheiden mit einem sehr schönen Zuhause in einer Christbaumkugelschachtel und einem Weggefährten, der mir immer zur Seite steht.

Als weihnachtliche Verkaufsgegenstände sprechen Kukumis und ich auch oft über den Sinn von Weihnachten. "Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen Sohn auf die Welt sandte, um den Menschen zu zeigen, wie man diese zum Besseren verändern kann", sagte Kukumis einmal. Ob er an die Märchen in der Bibel wirklich glaube, fragt ich ihn und er entgegnete: "Ja, ich glaube daran."
"Aber, wie kannst du?" fragte ich beinahe entsetzt, kam mir doch mein Kukumis immer so vernünftig und rational vor. "Das kommt, weil ich Wissen und Glauben streng unterscheide. Wissen hat mit dem Erkennen der Wirklichkeit zu tun, das heisst, dass es um das Wahre geht. Glauben hat mit dem Erkennen des Richtigen zu tun, das heisst, dass es um das Gute geht. Wenn ich an die Inhalte der Geschichten glaube, heisst das nicht, dass ich denke, dass sie so stattgefunden haben, sondern dass ich überzeugt bin, dass sie mir helfen, den Sinn und das Gute zu erkennen." Ich sagte Kukumis, dass es mir nicht leicht fiele, das zu verstehen, aber er erklärte: "Glandis, wenn es um die Form der Erde geht, die dir übrigens gleicht, dann hat das mit Wissen zu tun.
Doch aus Wissen folgt nicht automatisch mitfühlendes, tolerantes oder vergebendes Handeln. Um zu solchem motiviert zu werden,  braucht es Einsichten. Bei den Geschichten, die man sich über Gott, Jesus oder Maria erzählt, geht es um solche Einsichten, respektive um Weisheiten. Die Sinnbilder, die bildhaften Darstellungen und die Allegorien der Geschichten aus der Bibel können einem helfen, das Gute, das Richtige zu erkennen und in diesem Sinne zu handeln."

Ja, mein Freud ist wirklich eine aussergewöhnlich philosophische Gurke. Je länger ich über das, was er mir übers Glauben erzählte, nachdenke, desto besser verstehe ich, was er meint. Viele sogenannte religiöse Menschen sprechen Gott oder einer jungfräulichen Geburt keine wirkliche, sondern nur eine sinnbildliche Existenz zu. Und so schlussfolgere ich: Wissen heisst: Wirkliche Existenz beweisen können. Glauben heisst: Sinnbildliche Existenz wirken lassen. Gott kann demzufolge gar nicht wirklich sein, sondern nur sinnbildlich wirken.


Ganz so nachdenklich geht es bei Kukumis und mir nicht immer zu. Manchmal äffen wir nachts die Weihnachtsmusik nach, die in unserem Weihnachtsdorf jahraus, jahrein leise im Hintergrund läuft. Oder wir verändern deren Liedtexte und singen allerlei Komisches, Witziges oder Erheiterndes. Ihr glaubt es nicht, aber manchmal haben Kukumis und ich echt Lust auf solchen Blödsinn. Das ist meist immer dann der Fall, wenn uns wieder einmal in den Sinn kommt, dass wir ja eigentlich dazu da sind, um verkauft zu werden. Mit unserem Mumpitz unterdrücken wir unsere traurigen Gedanken. Nein, Glandis, die kleine, rote Weihnachtskugel und Kukumis, die grüne Weihnachtsgurke, wollen nicht verkauft werden; es sei denn zu zweit. Ganz ehrlich: Ein Leben als Mensch, als Weihnachtskugel oder als Weihnachtsgurke ist doch viel schöner, wenn man jemandem zum Philosophieren, zum Blödeln und zum Trösten hat.


Barbara