Montag, 12. Dezember 2022

Die alte Eiche

Meine zehnjährige DIY-Geschichte 


Im Dezember 2012, vor 10 Jahren also, 
schrieb ich eine Geschichte über eine alte Eiche, die Zeugin ungewöhnlicher Ereignisse zwischen Waldtrollen, einem einsamen Karpfen und einem Menschenjungen wurde.

Die alte Eiche


Es war einmal eine uralte Eiche. Grossmächtig und stolz stand sie am Ufer eines kleinen Weihers. Jahraus, jahrein war sie stille Beobachterin dessen, was am Weiher geschah. Ein Rotkehlchen und ein Blässhuhn besuchten sie mit den neuesten Nachrichten, und so wusste die Eiche über alles Bescheid, was passierte. Sie wusste auch, dass der Weiher zu einem der wenigen gehörte, in denen noch Wassertrolle hausten. Des Öfteren erfuhr sie von der Troll-Sippe, ihren guten Taten für die Tiere des Weihers und von ihrer langjährigen und einzigartigen Freundschaft mit dem alten Karpfen, der den wohlklingenden Namen "Carpio" trug. Ein paar Male hatte sie Mitglieder der Sippe schon bei ihren nächtlichen Ausflügen beobachtet.


Die zweibeinigen, bläulich-grünen Wesen sahen aus wie kleine, hüpfende Seegras-Klüngel. Bei jedem Ausgang trugen die Erwachsenen einen geschmückten, aus Seegras geflochtenen Hut. Mal verzierten kleine Muscheln, mal Seegräser diese Kopfbedeckung. Die Trolle, ob Männer, Frauen, oder Kinder, waren stets fröhlich, sie plapperten oder sangen, oder machten einfach Schilfrohrflöten-Musik.

Nun kam es, dass die alte Eiche eines Tages, es war der vierte Advent, Zeugin eines nicht seltenen Vorkommnisses wurde. Im Verlaufe des Morgens richtete sich ein Menschenmann mit einer Rute am Ufer ein, liess eine Schnur, die er aus der Rute kurbelte, ins Wasser tauchen und verharrte dann stundenlang fast unbeweglich am gleichen Ort.

Erst, als es an der Schnurr ruckte und zuckte, kam auch Bewegung in den Mann. Er begann in hastiger Eile an der Drehvorrichtung für die Schnur zu kurbeln. Irgend etwas aber schien der Schnur zu trotzen, denn der Mann ächzte und verzog das Gesicht, wie wenn er Schwerstarbeit leisten würde. Das Etwas tauchte nach mehreren Minuten aus dem Wasser auf. Ein Karpfen hing am Ende der Schnur. Doch auf dem Gesicht des Mannes zeigte sich kein Lächeln, wie dies bei anderen Anglern nach der Beute der Fall war. Er nahm den Karpfen vorsichtig von der Leine, legte ihn in einen Bottich, stellte diesen auf einen Leiterwagen und zog mit Sack und Pack von dannen. Es schien, als drücke ihn nicht nur die Last des Ziehens.

Schon am gleichen Abend trug das Eichhörnchen der alten Eiche die Nachricht zu, dass etwas geschehen sein musste, was noch nie geschehen war. Alle Trolle sassen nämlich am Tisch im Troll-Haus, wie zu Stein erstarrt, tottraurig, weder plappernd noch singend noch musizierend. Das sei so noch nie vorgekommen.

Tatsächlich: Gegen Abend stellte die älteste Troll-Frau fest, dass Carpio seit Stunden nicht mehr zu sehen war. Dies war ungewöhnlich, denn Carpio tauchte regelmässig und in kurzen Abständen beim Troll-Haus auf. Die letzte Gewissheit, dass mit Carpio etwas geschehen war, erhielten die Trolle vom Blässhuhn, das ihnen mitteilte, dass Carpio von einem Mann gefangen und weggetragen worden sei. Es, das Blässhuhn wisse aber noch mehr, denn es habe dem Rotkehlchen sofort den Auftrag gegeben, dem Menschenmann zu folgen und zu beobachten, was mit Carpio geschähe.


Das Rotkehlchen habe gesehen, wie der Karpfen nun in einem ganz kleinen Teich hause. Dieser sei weiss wie Schnee und befände sich in einem Zimmer des Hauses, in dem der Menschenmann mit seiner Frau und seinem Sohn wohne. Kaum hatte das Blässhuhn diese Worte gesprochen, löste sich die Starre der Troll-Männer, -frauen und -kinder und das Geplapper setzte wieder ein. Fürs erste waren alle froh, dass der Karpfen noch lebte, wenn auch in einem fremden Weiher.

Nach kurzer Zeit sprang der älteste Troll-Mann auf, gab kurz und knapp, aber sehr laut einige Befehle und ein emsiges Treiben unter Wasser begann. Nur kurze Zeit später sah die alte Eiche, wie die Trolle sich vom Weiher entfernten. Sie zogen schwere Karren, auf denen Leitern und Werkzeuge lagen. Der Weg bis ins Dorf war schneebedeckt und auch die Bäume und Sträucher trugen ein winterliches Kleid. Der Mond schien und machte die Nacht hell und klar. Schon tauchten die ersten Häuser auf. Nun wurde es noch heller, denn überall leuchtete und glitzerte es. An jeder Strassenlaterne waren Sterne befestigt, in den Gärten standen Weihnachtsbäume und Schlitten, die von Rentieren gezogen wurden.

Das Haus, zu dem das Rotkehlchen flog und in dem Carpio nun lebte, befand sich in der Nähe der Kirche. Auch diese war festlich geschmückt. Vor dem Portal befand sich eine Krippe mit Maria und Josef, mit dem Jesuskindlein, mit Ochs und Esel, den Schafen und den Hirten. Alsbald flatterte der Vogel aufgeregt vor einem dunklen Fenster, so dass die Trolle wussten, dass sie das Ziel erreicht hatten.

Sie hievten die Leitern und die anderen Gegenstände von ihren Karren. Um den Fenstersims zu erreichen, mussten sie mehrere Leitern mit Schnüren zu einer langen Leiter verbinden. Dies geschah in Windeseile und schon kletterten die Trolle der Reihe nach die Sprossen hoch. Nun pflanzten sie sich auf dem Fenstersims auf, und jedes Sippen-Mitglied versuchte, einen Blick in den Raum zu werfen, in dem Carpio war. Aber leider konnten sie ausser einigen Umrissen kaum etwas erkennen. Trotzdem holten sie ihre Werkzeuge aus den Karren und bugsierten diese nach oben. Gerade in dem Moment, als die Trolle ihre Brecheisen am Fensterrahmen ansetzen wollten, gab es Licht im Raum. Die Karpfenfreunde setzten sofort ihr Aufhebeln ein, duckten sich und verhielten sich mucksmäuschenstill.


Ein Menschenmann kam herein, guckte zuerst nach Carpio und dann lange und aufmerksam nach dem Fenster. Eine gute halbe Stunde setzte er sich auf den Rand der Badewanne und beobachtete den Karpfen. Sein Gesicht schien traurig und verzweifelt. Das waren lange und bange Momente für die Trolle, aber der Mann stand schliesslich unverrichteter Dinge wieder auf, löschte das Licht und verschwand durch die Tür, durch die er hereingekommen war. Die Trolle nickten sich erleichtert zu.

Am anderen Abend fand die gleiche Zeremonie wieder statt. Die Trolle marschierten mit Karren, Leitern und Werkzeugen zum Haus von Carpio, stellten die Leitern an, kletterten hinauf, pflanzten sich auf dem Fenstersims auf und begannen zu hebeln. Nach kurzer Zeit gab es Licht, genau wie am Vorabend. Wieder hörten die Trolle mit Arbeiten auf und verhielten sich ruhig. Es war aber nicht der Mann von gestern, der den Raum betrat, sondern ein Knabe, der hinter einer Bettdecke und einem Kissen kaum zu sehen war. Der Junge schaute zum Fenster und entdeckte eine ganze Reihe von Wasserrollen, die mit Einbruchwerkzeugen bewaffnet ins Badezimmer stürmten. Verblüfft riss der Junge die Augen auf. Der Knabe legte die Bettdecke und das Kissen auf einen Stuhl und öffnete leise das Fenster. Er bat die Trolle, doch in das Badezimmer einzutreten und ihm zu erzählen, was ihr Einbruchsversuch bedeutete. Die älteste Troll-Frau erzählte die Geschichte von Carpio, ihrem langjährigen Freund und davon, dass sie ihn nun nach Hause holen wollten. Sie berichtete auch davon, dass der erste Versuch gestern misslungen war, dass sie aber die Befreiung des Karpfens immer und immer wieder riskieren würden. Der Knabe war gerührt und ergriffen zugleich und berichtete nun seinerseits, dass er sein Schlaflager heute Nacht im Badezimmer hätte einrichten wollen, weil dies des Karpfens letzte Nacht sei. Morgen, am Heilig Abend, werde der Fisch aus der Badewanne genommen und getötet und am Abend als Weihnachtskarpfen serviert. So sei nun also nur der allerletzte Moment gekommen, den Karpfen unversehrt in den Heimatweiher zurückzubringen. Er würde den Trollen bei diesem Unterfangen behilflich sein. Er selber hätte alleine den Mut nie gehabt, den Karpfen zu befreien. Mit vereinter Hilfe würden sie die Rettung des Karpfens bewerkstelligen können.


Und so sah die alte Eiche ein paar Stunden vor Mitternacht eine eigenartige Kolonne an ihr vorbeimarschieren. Kleine, aufgeregte Trolle folgten einem Menschenknaben, der einen Leiterwagen mit einem Bottich bis zum Ufer des Weihers zog. Der Inhalt des Bottichs wurde in den Weiher entleert und der Knabe verabschiedete sich nach einiger Zeit herzlich und innig von der Troll-Sippe. Er verschwand in der Dunkelheit der Nacht und die Trolle trollten sich in die Tiefe des Weihers. Obwohl er wenig geschlafen hatte, erwachte der Knabe am anderen Morgen in aller Frühe.

Er war aufgeregt und gespannt, was der heutige Morgen bringen würde. Scheinbar hatten die Eltern von seinem nächtlichen Ausflug nichts mitbekommen, denn, als er heim kam, lag das ganze Haus in stillem Frieden. Doch dieser konnte täuschen, und er machte sich auf alles gefasst. Er frühstückte gemeinsam mit seinen Eltern und begleitete diese nach dem Essen ins Badezimmer, wo sein Vater den Karpfen aus der Wanne nehmen und für das weihnächtliche Festessen vorbereiten wollte. Der Knabe wusste von seinem Vater, dass ihm das Töten des Karpfens keine Freude bereitete, dass er es aber tat, weil die Tradition das nun mal vorschrieb und dies verlangte. Kaum hatten sie das Badezimmer betreten, stiess die Mutter einen Schrei aus, wurde blass und es schien, als wolle sie in Ohnmacht fallen. Der Vater stützte sie und schaute ebenfalls in die Badewanne, in der zwar Wasser, aber kein Karpfen war. "Wie um Himmels Willen ist der Fisch aus der Wanne entkommen", fragte der Vater. Er schaute kurz zu seinem Jungen und setzte sich dann schwer geduckt auf den Badewannenrand. Der Junge setzte sich neben ihn. "Das ist ein Zeichen", rief die Mutter und setzte sich ebenfalls auf den Rand der Wanne. So sassen nun also alle drei auf dem Rande der Wanne im Badezimmer. Sie hielten sich die Hände und schwiegen gedankenversunken. Erst viel, viel später ging die Mutter in die Küche, der Vater machte sich ans Schmücken des Weihnachtsbaumes und der Junge ging in den Garten, um zu spielen. Er baute viele kleine Schneefiguren. Seine Mutter meinte später, dies seien ganz ungewöhnliche Schneemännchen, sie sähen aber lustig aus mit ihren Kugelbäuchen, dem Heu auf den Hüten und dem Etwas an Händen und Füssen, das aussah wie Schwimmflossen. Zwischendurch half Vater in der Küche und so ging fast alles den gewohnten weihnächtlichen Gang.


Wie immer an Heilig Abend traf sich die Familie am späten Nachmittag in der Stube am festlich gedeckten Tisch. Nur etwas war anders: Kein Karpfen thronte in der Mitte einer Tafel und auch kein anderes Geiter ersetzte dessen Platz. Vater und Sohn sassen bereits am Tisch und warteten darauf, dass Mutter die Suppe brachte. Aber Mutter kam ohne Teller an den Tisch, setzte sich, schaute zuerst ihren Jungen und dann ihren Mann liebevoll an und begann zu sprechen. Sie sagte, dass das unerklärliche Verschwinden des Karpfens für sie ein weihnächtliches Zeichen gewesen, ein untrügliches Zeichen dafür, weiteres Leid zu vermindern. Schafe, Ochs und Esel -Tiere eben - seien die ersten Besucher im Stall von Bethlehem gewesen. Und Jesus selber hätte sich zeitlebens für die Armen und Schwachen eingesetzt, ob Mensch, ob Tier. So sei dieser Teil der weihnächtlichen Botschaft zu verstehen. Jesus sei stets der gute Hirte und kein blutiger Metzger gewesen. Und sie fragte, ob ihr Mann und ihr Sohn einverstanden seien, wenn ab heute in diesem Haus endgültig keine Tiere mehr gegessen würden. Auch dann nicht, wenn es die Tradition, der Besuch oder sonst was wünsche. Vater und Junge schauten sich an und antworteten Mutter mit einem freudigen, erleichterten und überzeugten "Ja".

Einige Tage später besuchte der Knabe die Troll-Sippe im Weiher und erzählte ihnen von allem, was sich an Heilig Abend bei ihm zu Hause zugetragen hatte. Die Trolle kugelten sich vor Aufregung, sie quiekten und kicherten ohne Unterlass und sie feierten den Jungen als grossen Helden und Schneetroll-Künstler. Dieser freute sich sehr und fand es eigentlich nur schade, dass er sein Glück nicht auch mit den Eltern teilen konnte. Blässhuhn und Rotkehlchen taten das ihre und deshalb vergingen kaum ein paar Stunden, bis die Eiche von den Ereignisse im Hause des Jungen am Heilig Abend wusste. Und auch sie freute sich sehr.

Sie freute sich für die Trolle, die ihren besten Freund zurück hatten, für den Karpfen, der noch leben durfte, für alle Tiere, die nicht mehr auf den Tellern in der Familie des Jungen landeten, uns sie freute sich vor allem für die Familie, die einen Schritt in die richtige Richtung gemacht hatte.

Etwas aber sollte für immer ihr Geheimnis bleiben. Sie hatte gesehen, wie in der Nacht vor Heilig Abend der Vater des Jungen der eigenartigen Kolonne unbemerkt gefolgt war; dem Knaben, der den Leiterwagen mit dem Bottich und dem Karpfen zog und den kleinen, aufgeregten Trollen. Die Eiche konnte sich nur vorstellen, dass der Menschenmann Geräusche gehört haben musste, dass er der ganzen Sache auf die Spur gegangen war und so Zeuge der Befreiungsaktion wurde. Und so, wie sie den Vater des Jungen einschätzte, hätte er seinen Jungen nie und nimmer alleine durch die dunkle Nacht ziehen lassen, auch, wenn er sicher sein konnte, dass die zweibeinigen, bläulich-grünen Wesen, die aussahen aus wie kleine, hüpfende Seegras-Klüngel, seinem Jungen wohlgesonnen waren.

Und es schien, als würde die Eiche, seit sie dieses Geheimnis hütete, nun noch grossmächtiger und stolzer am Ufer des kleinen Weihers stehen.


Barbara