Freitag, 9. Mai 2025

Zwei gehende Mädchen

meine DIY-Geschichte 


Das Gemälde "Zwei gehende Mädchen" von Max Liebermann inspirierte mich zu einer Geschichte, die eine fiktive Szene im Arbeitszimmer der Brüder Grimm erzählt.



Aus zwei wird eins

Die Französische Standuhr hatte eben sechs geschlagen, als sich Wilhelm von seinem Sekretär, der an der fensterlosen östlichen Wand des Studierzimmers erhob und zum Pult seines Bruders schlurfte. Nach einigen Stunden emsigen Schreibens waren seine Glieder klamm geworden.
"Jacob, darf ich dir den Anfang meines neusten Märchens vorlesen?" fragte er seinen Bruder, der ebenfalls schon seit Stunden über einem Manuskript gebeugt sass. Jacob hob den Kopf, nahm seine Brille ab und zeigte sich wahrlich interessiert an Wilhelms neuem Beitrag für ihre Hausmärchen-Sammlung.

Der Bruder begann vorzulesen:
"Es waren einmal zwei kleine süsse Mädchen, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Grossmutter, die wusste gar nicht, was sie alles den Kindern geben sollte. Eines Tages sprach ihre Mutter zu ihnen: 'Kommt, meine Mädchen, da habt ihr ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bringt das der Grossmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Macht euch auf, bevor es heiss wird, und wenn ihr hinauskommt, so geht hübsch sittsam, wie zwei gehende Mädchen es eben tun. Lauft nicht vom Wege ab, sonst fällt ihr und zerbrecht das Glas, und die Grossmutter hat nichts. Und wenn ihr in ihre Stube kommt, so vergesst nicht guten Morgen zu sagen und guckt nicht erst in allen Ecken herum!'"

An dieser Stelle hielt Wilhelm inne, denn das war der Anfang, und mehr zum Vorlesen gab es noch nicht.
Jacob rieb sich seine beiden Schläfen, so wie er das immer tat, wenn er über etwas ausführlich nachdachte.

"Zwei gehende Mädchen?" brummelte er vor sich hin, "das ist eines zu viel."
Wilhelm, der ihn sehr wohl verstanden hatte, blickte seinen Bruder überrascht an und wollte wissen, weshalb es nur eines sein sollte.

"Weisst du", begann der Ältere, der oft klarer und tiefgründiger nachdachte als sein Gegenüber, "wenn du nur ein Mädchen nimmst, dann wird das, was da kommen muss, egal, was dies auch immer sein mag, stärker, eindrücklicher und deshalb auch berührender."

"Ich lasse die Mädchen durch den Wald gehen und einen Wolf treffen, der sie zum Blumenpflücken verführt. Während sie dies tun und sich dabei immer weiter verlaufen, eilt der Wolf zum Haus der Grossmutter, gibt sich als die Mädchen aus und verschluckt die alte Frau."


An dieser Stelle fiel ihm Jacob ins Wort. „Gerade auch diese Stelle - sollten es zwei Mädchen sein - ist nicht ganz einleuchtend. Der Wolf müsste ja dann vorgeben, zwei Mädchen zu sein. Und eben: Mit nur einem Mädchen, sagen wir ihm Rotkäppchen, werden die kindliche Unschuld, die Bedrohung, die Verführung und die Rettung - eine solche würde es zweifellos geben - viel nachvollziehbarer und eindrücklicher.“

"Da könntest du, wie so oft schon, Recht haben," entgegnete Wilhelm. "Doch sag mal, wieso gibst du dem Mädchen einen Namen?"

Darauf, so sein Bruder, sei er ganz spontan gekommen, denn es sei ihm durch den Kopf gegangen, dass die Grossmutter ja den Kindern alles gab, was sie geben konnte. So dachte er, dass sie dem Mädchen - gerade weil es nur eins war - ein Käppchen von rotem Samt geschenkt hätte. Und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anderes mehr tragen wollte, wurde es von allen Rotkäppchen genannt.

Ohne etwas zu sagen, ging Wilhelm behende zu seinem Schreibtisch zurück, er setzte sich und rief seinem Bruder zu: "So werde ich es tun! Das Märchen für unsere Sammlung wird 'Rotkäppchen' heissen und zwei Schlüsse haben. Ja, so werde ich es tun."


Barbara, 8. Mai 2025