Mittwoch, 13. August 2025

Meine Gedanken

zu einem "Heute-Gedicht" eines gestrigen Poeten



Viele Gedichte bezaubern durch ihre schöne Sprache - den Stil, den Reim, die Melodie der Worte. Andere faszinieren durch die Art und Weise, wie sie es schaffen, Gefühle und Stimmungen auszudrücken. Und dann gibt es noch die Gedichte, die bewirken, dass man seinen Blick auf das Leben überdenkt.

Das Gedicht des persischen Dichters Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī gehört bei mir zur letzten Kategorie. Es ist nicht nur ein philosophisches Gedicht, es ist eine Philosophie.

Achte gut auf diesen Tag,
denn er ist das Leben –
das Leben allen Lebens.
In seinem kurzen Ablauf liegt alle seine
Wirklichkeit und Wahrheit des Daseins,
die Wonne des Wachsens,
die Grösse der Tat,
die Herrlichkeit der Kraft.
Denn das Gestern ist nichts als ein Traum
und das Morgen nur eine Vision.

Das Heute jedoch, recht gelebt,
macht jedes Gestern
zu einem Traum voller Glück
und jedes Morgen
zu einer Vision voller Hoffnung.

Darum achte gut auf diesen Tag.



Der persische Dichter und Mystiker lebte von 1207 bis 1273 in Konya (in der heutigen Türkei). Er war der Verfasser zahlreicher Gedichte und Lehrverse, die tief in der sufistischen Tradition, also der mystischen Strömung des Islams, verwurzelt sind. Das Gedicht besteht aus drei Strophen: ein erster, zehnzeiliger Vers, ein zweiter, fünfzeiliger und ein letzter, der aus lediglich einer Zeile besteht. Es gibt keinen Titel.

Die zentrale Aussage ist die Stelle "recht gelebt" in der ersten Zeile der fünfzeiligen Strophe. Rumi sagt mir, dass absolut nichts anderes wichtig ist im Leben, als den aktuellen Tag "recht zu leben".

Leider sagt er im Gedicht selbst nicht, was er darunter versteht. Aus anderen Gedichten oder Zitaten aber weiss man, dass er damit ein bewusstes, achtsames Leben im Einklang mit Liebe, Mitgefühl und dem inneren Wachstum meint.

Das bedeutet, dass nur der jeweils heutige bewusste Verzicht auf Gleichgültigkeit, Ignoranz, Rücksichtslosigkeit und geistiges Stehenbleiben den Tag zu einem aussergewöhnlichen und wertvollen Tag machen kann. Und nicht nur das: Das "recht gelebt" im Hier und Jetzt trägt auch dazu bei, dass man das, was war, und das, was sein wird, in einem positiven Licht erleben kann. Ohne das heutige "recht gelebt" bleibt das Gestern ein leerer und flüchtiger Traum, das Morgen eine unklare und kraftlose Vision. Mit Liebe, Mitgefühl und innerem Wachstum wird der Traum zum Glück und die Vision zur Hoffnung.

Erstaunlich ist, dass im Korintherbrief des christlichen Neuen Testaments etwas Ähnliches steht: „Glaube, Hoffnung und Liebe“ seien jene Tugenden, die es möglich machen, ein erfülltes Leben zu führen.





Was mich am Rumi-Gedicht besonders fasziniert, ist der starke Bezug auf den heutigen Tag. Man muss heute "recht leben", um das Morgen zu prägen - und wer heute "recht lebt", beeinflusst damit nicht nur das Zukünftige, sondern erstaunlicherweise auch das Vergangene.

Mehr kann ich zu diesem einzigartigen Gedicht nicht sagen - seine Weisheit spricht für sich.

Barbara


PS: 
Rumi wurde 1207 in Balkh geboren (im heutigen Afghanistan, damals Teil des Reiches der Choresm-Schahs, einer persisch geprägten Dynastie). Später floh seine Familie vor den Mongolen westwärts und liey sich in Konya nieder, das damals Teil des Sultanats der Rum-Seldschuken war - ein turkstämmiges Herrscherhaus, das aber stark von persischer Kultur, Sprache und Verwaltung geprägt war.