Jean-François Millet - Die Ährenleserinnen
Das Gemälde „Die Ährenleserinnen“ von Jean-François Millet (1814–1875) kann einem, wie viele andere Bilder und Geschichten auch, vor Augen führen, dass Prinzipien, Werte und Gebote nicht aus göttlichen Offenbarungen oder mystischen Erleuchtungserlebnissen stammen können. Sie entwickeln sich vielmehr aus den alltäglichen Erfahrungen der Menschen, die sie als Geschichten weitergeben. Aus dieser Überlegung entstand das folgende Interview.
Interview
Interviewer: Jeder Mensch hat seine eigenen Werte und Überzeugungen, die ihm als Wegweiser dienen. Was ist für dich der Kern eines solchen lebensphilosophischen Wegweisers?
Barbara: Ein lebensphilosophischer Wegweiser ist von grosser Bedeutung, besonders wenn man sich bewusst ist, dass in einem selbst nicht nur gute Seiten schlummern. Dieser Wegweiser bietet die festen Überzeugungen, die notwendig sind, um ein "gutes" Leben zu führen und ein "guter" Mensch zu sein.
Interviewer: Welche Art von Überzeugungen meinst du konkret?
Barbara: Es geht dabei konkret um Prinzipien, Werte und Gebote, die auf Ethik, Ästhetik und Vernunft gründen. Sie können beisbielsweise aus Geschichten, die oft über Generationen weitergegeben wurden, herauskristallisiert werden.
Interviewer: Welche Rolle haben Religionen in der Vergangenheit bei der Vermittlung solcher Werte gespielt?
Barbara: Früher waren es vor allem die Religionen, die solche Geschichten und die dazugehörige Lebensphilosophie - bekannt als Glaube - vorgaben. Diese Geschichten zeigten den Menschen nicht nur den Unterschied zwischen den Bösewichtern und den Guten, sondern wiesen den Gläubigen auch den einzig richtigen Weg.
Interviewer: Wie hat sich die Quelle für solche Werte heute verändert?
Barbara: Heute gibt es nicht mehr nur die Geschichten der Heiligen Schriften, die uns zeigen, wie man ein „gutes“ Leben führen und ein „guter“ Mensch sein kann. Man muss auch nicht unbedingt mehr ein religiöser oder gläubiger Mensch sein, um moralische Orientierung und ethische Prinzipien zu haben.
Interviewer: Wo finden Menschen heute sonst noch solche Geschichten und Werte?
Barbara: Die Geschichten, aus denen wir unsere lebensphilosophischen Wegweiser machen, können heute unterschiedlichste Quellen haben. Neben den Heiligen Schriften aller Kulturen bieten uns auch Mythen und Legenden, Werke der Philosophie, Literatur und bildenden Kunst die Möglichkeit, zu unseren notwendigen und wichtigen Überzeugungen zu gelangen.
Interviewer: Was ist entscheidend, wenn es um diese Geschichten und die Werte geht, die sie vermitteln?
Barbara: Entscheidend dabei ist erstens, dass wir solche Geschichten haben und immer auf sie zurückgreifen können und zweitens, dass wir gewillt sind, ein "gutes" Leben zu führen und ein "guter" Mensch zu sein.
Interviewer: Welche Art von Geschichten sind für deinen persönlichen Kompass besonders wichtig?
Barbara: Für meinen persönlichen lebensphilosophischen Kompass, obwohl ich nicht im klassischen Sinne „glaube“, sind mir unter vielen anderen die Geschichten aus der Bibel wichtig. Diese Geschichten helfen einem zu erkennen, dass alles, was mit Macht, Kontrolle, Überheblichkeit, Arroganz, Täuschung oder Aberglauben zu tun hat, Machenschaften von Bösewichtern sind, und dass einen die dahinter steckenden Überzeugungen definitiv auf einen Holzweg führen.
Interviewer: Was genau lehren dich diese Geschichten?
Barbara: Sie lassen einen erkennen, welche Prinzipien, Werte und Gebote wirklich von Bedeutung sind - nämlich die, die uns helfen, ein Leben in Respekt, Mitgefühl und Gerechtigkeit zu führen.
Interviewer: Wie stehst du zur heutigen Haltung der Kirchen gegenüber den biblischen Geschichten?
Barbara: Ich kann nur schwer nachvollziehen, warum die Kirchen in unserer Zeit noch keinen Weg gefunden haben, diese Geschichten als Spiegel der alltäglichen Erfahrungen und Bedürfnisse der Menschen zu sehen und sie den Gläubigen immer noch als göttliche Offenbarungen präsentieren.
Interviewer: Was macht diese Geschichten deiner Meinung nach besonders wertvoll?
Barbara: Die Geschichten sind wunderbare literarische Zeugnisse voller Metaphern, Bildern und Symbolen, die zeigen, dass der Mensch seit jeher das Bedürfnis hatte, ein „gutes“ Leben zu führen und ein „guter“ Mensch zu sein, wobei selbstverständlich in früheren Zeiten „gut“ anders verstanden wurde als heute.
Interviewer: Warum denkst du, hat die Kirche Mühe damit, eine symbolische oder metaphorische Natur Gottes anzuerkennen und zu würdigen?
Barbara: Indem die Kirche für eine reale Existenz Gottes oder für seine Wirkexistenz plädiert, rechtfertigt sie ihre eigene Existenz.
Interviewer: Was könnten die Folgen sein, wenn die Kirche sich nicht der Moderne öffnet?
Barbara: Indem sie die Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit, die bestimmte Aussagen in Geschichten der Heiligen Schrift haben, nicht in den Fokus rückt, sondern ganz bestimmte Fiktionen als real oder real wirkend präsentiert, gefährdet sie letztlich die Basis, auf der sie selbst aufbaut.
Interviewer: Vielen Dank, Barbara, für dieses tiefgründige Gespräch und die interessanten Einsichten.
Barbara: Gern geschehen, es war mir eine Freude.
Barbara
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